Süß-Sauer
„Hallo Schatz, ich bin zu Hause!“
Erleichtert ließ Lars die Haustüre hinter sich in Schloss fallen.
„Und wie war dein Tag, Liebling?“, begrüßte ihn seine Frau Maren mit einer Schüssel Bonbons auf dem Arm.
Ein zärtliches Lächeln ruhte auf Marens Lippen und ihre blonden Haare saßen wie immer perfekt.
Der frische Pinienduft und die weiß-blaue Schüssel offensichtlich selbstgemachter Bonbons kündeten von ihrer Arbeit, aber dennoch stand sie genauso frisch und herausgeputzt wie immer da um ihren Mann zu begrüßen.
Es war das Wissen um diese Tatsache, die ihn Tage wie den heutigen überstehen ließen ohne seinem Chef seine verdammten Aktenordner sonstwohin zu schieben.
Langsam und erschöpft schälte er sich aus seinem Jackett.
„Du wirst nicht glauben, was heute wieder los war... .“, begann Lars mit müder Stimme zu erzählen.
„Erzähl mir davon, dann werden wir schon sehen.“, flötete Maren. „Aber vorher nimm dir noch ein Bonbon, sie sind wirklich köstlich!“
Sie streckte ihm mit einem zuckersüßem Lächeln ein mindestens ebenso zuckriges, grün glänzendes Bonbon entgegen.
Lars blickte die Kugel kurz unschlüssig an, dann griff er Marens Hand und schloss sie zärtlich um die Süßigkeit.
„Danke Schatz, aber mir ist heute nicht mehr nach Süßem.“
Obwohl der Tag bitter genug gewesen war, dachte er bei sich.
Langsam schleppte er sich ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen Sessel fallen.
Beide, der Sessel und er ächzten im Duett, der eine unter dem Gewicht des anderen und der andere unter dem Gewicht der Welt.
„Das Abendessen braucht noch einen Moment“, zirpte Maren aus der Küche, „ der Braten braucht vielleicht noch eine Viertelstunde. Also genug Zeit, um zu erzählen, was dich bedrückt, du siehst ja völlig erschlagen aus.“
Lars schenkte ihr einen dankbaren Blick. Er hatte nicht meckern wollen, aber wenn sie ihn darum bat... .
„Aber vorher nimm dir ein Bonbon, Süßes hilft bei Stress.“
Gähnend rieb sich Lars mit dem Finger das Auge.
„Schatz..., das ist furchtbar (hier wollte er den Satz eigentlich beenden, aber zum Wohle des Haussegens verwarf er diese Idee); das ist furchtbar lieb von dir, aber heute war totales Chaos in der Firma und das einzig Süße, dass ich heute noch brauche, bist du.“
Still gratulierte er sich zu diesem geschickt angebrachten Kompliment, damit sollte das leidige Bonbon vom Tisch sein.
Er fuhr fort zu erzählen:
„Die Russen mache Druck, sie wollen schon wieder mehr Geld, wenn das so weitergeht, werden wir bald Entlassungen verkünden müssen. Und du weißt ja, an wem solche Sachen dann immer hängen bleiben... .
Außerdem mussten wir eine Rückholaktion starten, irgendwas mit Spinneneiern, ich denke es wäre besser, wenn du in nächster Zeit kein Obst von den Philippinen kaufst.
Was das wieder für eine Publicity gibt kannst du dir ja denken und wer ist für den alten Ulrich wieder der Sündenbock? - Ich natürlich.
Sag mal...hörst du mir überhaupt zu?“, hakte Lars nach, als jegliche Reaktion ausblieb.
„Natürlich, du hattest einen schweren Tag, nimm dir ein Bonbon und die Welt sieht gleich ganz anders aus.“
Lars blinzelte verwundert. Schon wieder dieses grüne Ding.
Was hatte sie damit? Warum hielt sie ihm das Ding jetzt schon zum dritten Mal unter die Nase?
So langsam schmolz seine Geduld dahin. Mehr als eine Speiseeiskugel hatte den Tag ohnehin nicht überstanden.
„Maren, ich habe dir doch schon... .“ Sein Blick begegnete den großen Augen Marens. Offen und beinahe emotionslos sah sie ihn an. Fast lauernd, wartend.
Das passte nicht zusammen, warum nervte sie ihn mit diesem Bonbon und schien ihre eigene Aufdringlichkeit selbst nicht zu bemerken. Sie war doch sonst so feinfühlig?
„Was wolltest du sagen?“, zwitscherte seine Frau.
„Nein, nichts Schatz, ich würde liebend gerne ein Bonbon haben, aber ich möchte mir den Appetit nicht verderben.“
Maren zuckte zusammen. „Ach herrje! Der Braten!“
Sie ließ das Bonbon auf dem Couchtisch fallen und schoss davon.
„Oh nein! Angebrannt!“ Tönte es Augenblicke später aus der Küche.
„Ich denke, du kannst das Bonbon ruhig essen.“
Wie praktisch, dachte Lars. Es roch gar nicht verbrannt.
Also schon wieder das Bonbon. Was sollte das?
Fast war er versucht dem Bonbon tief in seine nicht vorhandenen Augen zu blicken und in bester Clint Eastwood-Manier zu zischen: „Jetzt sind es nur noch du und ich... .“
Allerdings war ihm das dann doch zu albern.
Warum wollte Maren unbedingt, dass er dieses Bonbon aß?
Sie war doch sonst nicht so verbissen, wenn es ums Essen ging, im Gegenteil, wie oft hatte sie ihm schon einen Wink mit dem Gartenzaun gegeben, dass er doch bitte etwas abnehmen solle.
Und jetzt das? Hier stank etwas gewaltig... .
Grübelnd starrte er die Süßware an.
Was hatte es mit diesem giftgrünen Ding auf sich?
Giftgrün?
Ein absurder Gedanke. Völliger Unsinn.
Aber andererseits... .
Dieses völlig untypische Drängen, der seltsame Blick, der offensichtlich nicht angebrannte Braten... .
Die Idee war völlig unsinnig...außer... .
Hatte sie vielleicht von seinem Techtelmechtel mit der Vollbusigen aus der Buchhaltung auf der Weihnachtsfeier erfahren?
Unwahrscheinlich.... Maria (oder war ihr Name Sabrina? Anna?) hatte bestimmt nicht geplaudert.
Außerdem war das doch kaum etwas gewesen, ein bisschen harmloses rumgeknutsche, sie waren alle betrunken gewesen.
Er hatte Maren ja alles beichten wollen, aber er hatte Angst vor ihrer Reaktion gehabt.
Besser man lässt einfach Gras über die Sache wachsen, aus den Augen aus dem Sinn.
Hatte er sich gedacht.
Und jetzt starrte ihn dieses grüne Bonbon an, es bohrte sich wie ein Stachel in sein Fleisch.
„Ich weiß was du getan hast...“, schien es zu flüstern.
Konnte es wirklich sein?
Wusste sie Bescheid?
Und selbst wenn, würde sie ihn deswegen gleich vergiften? Ihn umbringen?
Woher kam diese Unruhe?
Kannte er seine Frau nach all den Jahren der Ehe so schlecht? Oder gerade so gut?
Sollte er das Teil verschwinden lassen, solange sie in der Küche war?
Aber wohin? Einfach unter das Sofa?
Nein, sie würde es beim Putzen finden.
Also in die Tasche und außerhalb des Hauses entsorgen.
Und dann? Wie sollte er so weiterleben? Wie würde er nachts noch schlafen können, wenn er sich nicht sicher sein konnte, ob seine Frau neben ihm nur darauf wartete ihn verschwinden zu lassen?
Eins nach dem anderen, zuerst muss dieses Bonbon verschwinden!
Dieser Dämon, der ihm seinen Betrug so frech vor Augen hielt musste ausgetrieben werden, vorher konnte er keine Ruhe finden.
Mit spitzen Fingern griff er nach der Süßigkeit.
Jetzt schnell in die Tasche und dann - .
„Uff,“ Maren kam mit einem erleichterten Blick aus der Küche, „das Abendessen ist gerettet.“, verkündete sie strahlend.
„Hervorragend.“, presste Lars zwischen seinen Zähnen hervor, „Zu spät!“, fluchte es in seinem Kopf.
Was jetzt?
„Oh!? Du wolltest gerade das Bonbon essen? Lass dich nicht aufhalten.“
Bildete er sich diesen Unterton nur ein?
Lars schluckte.
Jetzt gab es keinen Ausweg mehr, entweder er verspeiste jetzt dieses Dragee, oder er weigerte sich offen.
Und dann würde er sich den Fragen Marens stellen müssen. Beißende Fragen, die ihn am Ende, dessen war er sich sicher zu einem Geständnis führen würden.
Ermunternd blickte ihn seine Frau an.
Konnte sie so falsch, so durchtrieben sein?
Lars Atem ging schneller. Seine Hand schloss sich fest um das Bonbon. Klebrig und feucht.
Hatte er es nicht in gewisser Weise verdient?
Sollte er seiner Frau nicht vertrauen? Sollte er nicht daran glauben, dass sie ihn ebenso liebte, wie er sie? Trotz dieses einen schwarzen Moments?
Das Bonbon begann wie eine glühende Kohle in seiner Handfläche zu brennen.
„Schuld! Verrat!“, zischte es zwischen seinen Fingern hervor.
Eine Feuerprobe, Gottesurteil.
Stellte ihn hier eine höhere Macht auf die Probe?
Oder war es doch die Wut einer gekränkten Frau?
Wo lag da eigentlich der Unterschied?
Er hielt es nicht mehr aus. Eine Entscheidung. Jetzt.
Sein Hals war trocken, er musste schlucken um die nächsten Worte aussprechen zu können.
Es fiel ihm schwer den nötigen Speichel zusammenzubringen, aber er muss.
Diese Worte musste er aussprechen, sie lagen ihm wie ein Steinquader auf der Seele:
„Maren,....“ Eine Pause , sein Magen sträubte sich gegen die Entscheidung, die er getroffen hat. Rebellion.
Und dann dieser engelsgleiche Blick!
Wenn sie wüsste, was ihn gerade um trieb! Oder wusste sie es?
Seine Gedanken drehten sich im Kreis, das war ja gerade das Problem!
„Maren,“ , begann er erneut. „Maren, eins darfst du nie vergessen, was auch passiert, ich liebe dich.“
Mit diesen Worten schob er das Bonbon in seinen Mund.
Stille Augenblicke vergangen.
Ihm wurde übel.
So elend hatte er sich noch nie gefühlt.
Es fühlte sich an, als ob er anstatt einer Zunge einen Pelzmantel im Mund hatte, seine Backen brannten und sein Magen versuchte energisch seinen Inhalt zu entleeren.
„Also doch.“, dachte Lars zwischen den Schüben der Übelkeit.
Mit schmerzverzerrtem Gesicht presste er sich seine Hand auf den Bauch.
Das Bonbon hatte er schon längst wieder ausgespuckt, aber er wusste, dass es zu spät war.
Alles was ihm noch blieb, war zu warten, bis der Schmerz nachließ.
Für immer.
Regungslos stand Maren über ihm beobachtete seinen Todeskampf.
Lars hob geschwächt den Kopf, der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen.
„Verzeih mir.“, dachte er noch, dann war er von seinen Schmerzen erlöst.
Hustend zog er sich auf die Knie.
„Was zum Teufel war denn das! Wo hattest du dieses Ding her?!“
„Aus den Ritzen zwischen den Sofapolstern“, antwortete Maren mit Befriedigung im Blick, „denselben Polstern, die du schon vor drei Wochen zu putzen versprochen hast.
Und jetzt komm, das Essen wird kalt.“